Forschung

Forschungsfelder

Das DFG-geförderte interdisziplinäre Graduiertenkolleg erforscht Texte aus Antike und Mittelalter, die in bewusste Abhängigkeit von Vorlagen treten und in diesem Sinne "heteronom" sind.

Zu dieser bislang nicht systematisch im Zusammenhang erfassten Gruppe verwandter Textformen zählen Kommentare, Paraphrasen, Kompendien, Lexika, Chroniken, Sammlungen, wiedererzählte Romane u.ä. Solche Texte trugen in Antike und Mittelalter entscheidend zur Entfaltung von Kultur und Wissenschaft bei.

Sie werden disziplinenübergreifend daraufhin untersucht, wie sie durch aktualisierende Auswahl und Verarbeitung ihrer Vorlagen auf verschiedenen Ebenen – wissenschaftlich, kulturell, formal, ästhetisch – eine ihnen eigene "Autonomie" ausbilden.

Die Struktur des Graduiertenkollegs ergibt sich aus einem Netz von vier miteinander verbundenen Forschungsfeldern. Sie umfassen vier Gruppen heteronomer Texte, die sich in unterschiedlicher Abhängigkeit von ihren Vorlagen bzw. ihrem Prätext bewegen.

Research Areas
Forschungsfelder
Diamant

Commentarius - Das erklärend-exegetische Feld

Ein typisches Kennzeichen der Gattung ist eine enge Textorientierung, die sich als konservierende Heteronomie in unterschiedlichen Formen äußern kann. Die Form entsteht in der Kaiserzeit. Sie ist mindestens mit Alexander von Aphrodisias um 200 n. Chr. voll entwickelt und blüht, in wissenschaftlichen Kommentaren wie in Predigten und vielem anderen, weiter bis ins Mittelalter.

Alle Formen kommentierender Literatur, namentlich
  • Kommentare verschiedener Formen, z.B. als fortlaufender Lemmakommentar, als Quaestionenkommentar, als Kommentar in Dialogform, als Katenenkommentar, als Glosse und Scholium usw.
  • weitere kommentarartige Texte und Textteile, z.B. Widerlegungen, die kritisch auf eine Vorlage eingehen, erläuternde Passagen in biblischen Texten (z.B. im Hebräerbrief zur Septuaginta) oder auch Predigten
  • Prätexte solcher kommentierender Texte (i.e. kommentierte Texte) sind
  • in der Theologie namentlich die Bibel (etwa von Philon, Hippolyt, Origenes, Methodius von Olympus, Ava von Göttweig, Petrus Comestor usw.) und gelegentlich anderes, z.B. Glaubensbekenntnisse oder die Sentenzen des Petrus Lombardus
  • in der Philosophie Aristoteles, Platon und andere klassische Texte (z.B. Epiktet, Enchiridion, Theoprast, Avicenna, der Liber de causis usw.)
  • in der Medizin die Werke des Hippokrates, Galen und später Avicenna
  • in der Rechtswissenschaft Werke älterer Juristen, kommentiert z.B. von Domitius Ulpianus und Iulius Paulus oder der Interpretatio zu den Paulussentenzen in der Lex Romana Visigothorum
  • in der Grammatik klassische Traktate wie Dionysius Thrax, Priscianus etc.
  • in der Auslegung literarischer Texte Klassiker wie Homer und Ovid
  • Kompendien wie diejenigen Isidors von Sevilla, die z.B. von Hrabanus Maurus kommentiert werden
  • ferner zahlreiche Texte, die ausgelegt oder widerlegt werden sollen

Collectio - Das anthologisch-enzyklopädische Feld

Dieses Feld umfasst die Sammlungs- und enzyklopädische Literatur, deren gemeinsames Merkmal ist, dass im Sinne einer rekonstituierenden Heteronomie verschiedene Exzerpte, die hierfür mit bestimmten Techniken bearbeitet und geordnet werden, einen neuen Text oder dessen Kern bilden. Die spezifische Leistung des Autors besteht hier in der Auswahl und Neuanordnung des Materials bis hin zur literarischen Gestaltung, in der Kapitelgliederung sowie in vielen Fällen in eigenständigen Vorworten. Ferner fallen in dieses Feld solche Fälle, in denen der neue Text gekennzeichnete Zitate oder nicht gekennzeichnete Auszüge zusammenstellt und mit eigenen Worten des Autors zu einem organischen Ganzen verbindet.

Alle Formen von Sammelwerken, namentlich
  • die großen Zitatensammlungen der Überlieferungsliteratur (Stobaios, Anthologia Palatina, Apophtegmata patrum etc.)
  • Lexika und Kompendien, die durch systematisches Zusammenstellen verschiedener Materialien entstanden sind (Suda, Isidor von Sevilla, Petrus Lombardus, Celsus, Alexander von Tralleis, Oreibasios etc.)
  • Sammlungen von Gesetzestexten (Institutiones, Digestae, Decretum Gratiani etc.)
  • Sammlungen von Biographien und doxographischen Meinungen (schon bei Aristoteles, später bei Aetios, Diogenes Laertius etc.)
  • Sammlungen von Belegtexten (Abaelard, Sic et Non; Moralium dogma philosophorum etc.)
  • Zusammenstellungen von Quaestionen, Briefen, Predigten, Rezepten (z.B. bei Gregor dem Großen), Fabeln (Aesop), Prooemien und Hypothesen zu Schulautoren etc.
  • antike und mittelalterliche Handschriften und Editionen, die Texte in (mehr oder weniger systematischer Weise) anordnen und Paratexte (Überschriften, Gliederungen) hinzufügen (z.B. Archetyp der Lukrez-Handschriften; Porphyriosʼ Edition Plotins
Diamant

Continuatio - Das fortschreibend-ergänzende Feld

Ein weiterer Typ der konservierenden Heteronomie sind die verschiedenen Formen der Fortsetzungsliteratur, die es aus der Antike und dem Mittelalter gibt. Ihr Kennzeichen ist, dass der Prätext bei einer Fortschreibung im Prinzip unverändert gelassen, aber ergänzt wird.

Fortschreibungs- und Vervollständigungsliteratur jeder Art, namentlich
  • fortgeschriebene Chroniken und Fortsetzungen historischer Werke (Rufins Fortschreiben der Kirchengeschichte Eusebs)
  • Fortsetzungen und Ergänzungen von Epen und Romanen
  • Fortschreibungen prophetischer und anderer heiliger Texte (z.B. Jeremiabuch, Psalmen Salomos)
  • Vervollständigungen und Ergänzungen wissenschaftlicher und literarischer Werke, z.B. Appendix Vergiliana, Vervollständigungen unvollendeter Werke des Thomas von Aquin, Duns Scotus und anderer
  • Ergänzungen und Erweiterungen hagiographischer Literatur (z.B. Martinellus)

Renarratio - Das paraphrastisch-diegetische Feld

Eine weitere Form der rekonstituierenden Heteronomie ist die Nacherzählung bzw. Paraphrase eines anderen Textes, die wir unter dem Schlagwort „Renarratio“ zusammenfassen. Hier wird der Prätext nicht in seiner wörtlichen Form transponiert, sondern in der Regel mit eigenen Worten wiedergegeben.

Jegliche Nacherzählungen, die den Wortlaut ihrer Vorlagen verändern, namentlich
  • Paraphrasen wissenschaftlicher Texte (analog zu den Kommentaren unter „Commentarius“), z.B. des Caelius Aurelianus zu Soran,
  • eigene Darstellungen des Vorlagenstoffs, wie sie z.B. Avicenna und Albertus Magnus für aristotelische Werke liefern
  • Nacherzählungen literarischer Werke, z.B. wiedererzählte Romane oder Bibeldichtungen
  • freie Übersetzungen, die in eigenen Worten verfahren
  • Kompendien und Epitomen, die ihre Vorlage eigenständig verarbeiten (z.B. historische Breviarien wie die von Aurelius Victor, Eutrop oder Festus)