„Nebulöse Autoritäten. Vertrauen und Verunsicherung in NA 1, 2“, Vortrag von Johanna Schubert im Gräzistischen Colloquium (Prof. Andreas Schwab), CAU Kiel

Kieler Förde

‚Wer hat hier das Sagen?‘, ist die grundlegende Frage, mit der ich mich im Hinblick auf Aulus Gellius’ Werk, die Noctes Atticae, beschäftige. Einerseits steht dabei zur Debatte, wer eigentlich in einem Kapitel spricht, und andererseits, wer Autorität für sich beansprucht bzw. wem Autorität zugesprochen wird.

Ich habe über diese und weitere Problemen in einem Vortrag im Kieler Gräzistischen Colloquiums gesprochen. Auf Einladung von Professor Andreas Schwab konnte ich dort einen Einblick in meine aktuelle Forschung geben, die sich mit der inter- und intratextuellen Verknüpfung der einzelnen Kapitel beschäftigt.

Der Tag meiner Zugreise in den Norden wurde von Sonnenstrahlen begleitet, die mich an die von Gellius geschilderte Szene erinnerten. In Kapitel des Werkes 1, 2 gibt der Ich-Erzähler Gellius vor, eine Anekdote aus seiner Athener Bildungsreise preiszugeben (NA 1, 2). Er schreibt, dass Herodes Atticus, sein Zeitgenosse, ihn zu einem Gastmahl eingeladen habe. Dieses Gastmahl fand in der Nähe von Athen bei gleißender Sommerhitze statt. Nach dem Essen unterhält man sich, wobei ein junger Stoiker ständig seine Meinung zu allem dazugibt. Damit sich die Gesellschaft wieder anderen Themen zuwenden kann, lässt Herodes Atticus ein autoritatives Buch herbringen und daraus vorlesen. Es handelt sich um Epiktets Diatriben. Das Zitat verschlägt dem jungen Stoiker sofort die Sprache. Was also steht in diesem Buch?

Zum Glück zitiert Gellius die Stelle ausführlich für uns: Epiktets Diatribe 2, 19 setzt sich (u.a.) mit ‚echten‘ und ‚falschen‘ Stoikern auseinander. Seiner Meinung nach gibt es eigentlich gar keine ‚echten‘ Stoiker, denn es sei lächerlich zu glauben, dass man etwa die Güter-Klassifikation (eine typisch stoische Lehrmeinung) auch in Gefahrensituationen durchführen kann. Herodes Atticus eignet sich diese Meinung Epiktets nun an, indem er ihn zitiert, und wendet sich damit gegen seinen eigenen Widersacher, den jungen Stoiker beim Gastmahl. Es scheint klar, dass er gegen ihn ‚gewinnt‘. Allerdings wendet sich Epiktet in der gesamten Diatribe, die ist viel länger ist als das bei Gellius zitierte Stück, nicht nur gegen ‚falsche‘ Stoiker, sondern überhaupt dagegen, sich mit Zitaten anderer (vgl. Tischer 2007) und mit Bezeichnungen wie ‚stoisch‘ zu schmücken, wenn man gar nicht verstanden hat, was das eigentlich bedeutet. Das Aufrufen von Autoritäten wird abgelehnt.

Dies steht im Gegensatz zum gellianischen Text: Herodes Atticus bemüht sich darum, den Epiktet-Text mit normativer Geltung aufzuladen, indem er den Autor als Stoicorum maximus, den „besten aller Stoiker“, bezeichnet. Wir als Lesepublikum müssen nun entscheiden, ob wir Epiktet oder Herodes Atticus glauben wollen – sind wir ‚für oder gegen‘ das Zitieren von Autoritäten? Aber nicht einmal diese Entscheidungsfrage kann leichtfertig beantwortet werden. Herodes Atticus ist eine historische Persönlichkeit, die aber von Gellius benutzt wird, um sein eigenes Werk zu schmücken. Es ist fraglich, ob sich die Situation, die Gellius beschreibt, jemals so zugetragen hat (wahrscheinlich eher nicht). Können wir also darauf vertrauen, dass Herodes Atticus Epiktet für den „größten aller Stoiker“ gehalten hat, oder ist das ironisch gemeint? Schließlich bezeichnet er sogar den jungen Stoiker, gegen den er ja argumentiert, als „besten aller Philosophen“ (philosophorum amplissime).

Wir schwanken zwischen Vertrauen und Verunsicherung, müssen uns unsere eigene Meinung bilden. Das eingangs skizzierte Problem, ‚Wer hat hier das Sagen?‘, ist doppelt zu verstehen: Spricht Gellius oder Epiktet und wer hat recht mit dem, was er sagt?

Mit diesen weiterhin offenen Fragen setzten sich auch die Teilnehmenden der Diskussion im Anschluss an den Vortrag auseinander, für deren Hinweise zur Fiktion, zur pädagogischen Ausrichtung des Werkes und zu diversen weiteren Themen bin ich äußert dankbar. Über ihre Anmerkungen hinaus haben mich Samantha Philips und Dr. Wong Tsz tatkräftig bei der Reiseorganisation unterstützt. Ich danke Professor Schwab für die Möglichkeit, in Kiel vorzutragen.

Bei Fragen und Anmerkungen erreichen Sie mich unter johanna.schubert@uni-jena.de.

 

Literaturhinweise

Kapitel NA 1, 2 bei Perseus https://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Gel.+1.2&fromdoc=Perseus%3Atext%3A2007.01.0071

Ute Tischer (2007), „Gellius, Ein stoischer nebulo und das Zitat. Zu Gellius 1, 2“, Philologus, 151(2), 273–284. https://doi.org/10.1524/phil.2007.0005